An einem Morgen vor einigen Monaten stand Sophie Hunger um vier auf, um rechtzeitig zum DJ-Set von Paula Temple um fünf im Berliner Technoclub KitKat zu sein. Sie hätte auch ab Mitternacht durchfeiern können, wie es die meisten Clubgänger machen, aber sie wollte für Temple einen klaren Kopf haben. „Ich hatte die Wahl: Die ganze Nacht dort verbringen und morgens tot sein, oder um fünf hingehen, also bin ich um fünf hingegangen“, sagt sie und zuckt mit den Schultern. Das ist typisch Hunger: schwer verliebt ins Nachtleben von Berlin, aber immer noch die pragmatische Schweizerin.
Wobei Hunger ihr Leben seit ihrem letzten Album Supermoon von 2015 ziemlich auf den Kopf gestellt hat. Sie zog nach Berlin, wo sie analoge Synthesizer und die elektronische Musik entdeckte. Sie tauschte klassische Instrumente gegen Drum-Computer und Software und entschloss sich, ein komplett englischsprachiges Album aufzunehmen statt wie bisher Englisch, Französisch, Deutsch und Schweizerdeutsch zu mischen. „Ich wusste immer, dass das nicht ganz koscher ist“, sagt sie. „Ich stellte mir ja gerne vor, mich damit heldenhaft der Tyrannei der anglophonen Popkultur entgegenzustellen; andererseits wusste ich aber auch, dass ich mich insgeheim hinter diesem seltsamen Sprachenmix elegant versteckte.“ Unter Fans, Kritikern und bewundernden Mitmusikern galt sie deshalb bislang als das am besten gehütete Musikgeheimnis der Schweiz. Dank Molecules werden sie Hunger nun mit dem Rest der Welt teilen müssen.
Ihre Umtriebigkeit wurde Hunger schon in die Wiege gelegt. Die geborene Bernerin wuchs in Zürich, Bonn und London auf und nahm dabei die Liebe zum Jazz mit, die ihre Eltern ihr vermittelt hatten. Sie verliebte sich in Punk, Hip Hop und Folk, wurde Sängerin beim Elektronikkollektiv Superterz und der Indierockband Fisher und veröffentlichte 2006 ihr Debütalbum Sketches On Sea. Mit dem Nachfolger Monday’s Ghost kletterte sie 2008 nicht nur an die Spitze der Schweizer Charts, sondern spielte sich auch in unzählige europäische Herzen. 2010 trat sie als erste und einzige Schweizerin überhaupt beim Glastonbury Festival in England auf. Es folgten 1983 (2010), The Danger Of Light (2012) und Supermoon (2015), das in Deutschland auf Platz 6 der Album-Charts landete. Einen Duettpartner für Supermoon fand sie in der Manchester-United-Legende Eric Cantona – der sich als Hunger-Fan nicht lange bitten ließ. Ein anderer Fan lud sie erst kürzlich auf sein aktuelles Album ein: Steven Wilson schätzte ihren „sexy- unheimlichen“ Gesang so sehr, dass er ihn unbedingt auf To The Bone haben wollte, das in Großbritannien auf Platz drei der Charts stieg.
Hunger ist eine Meisterin, wenn es darum geht, sich das Unerwartete zueigen zu machen und dabei immer sie selbst zu bleiben. Eine düsterschöne Ballade mit einem Fußballer einsingen, mit Max Herre beim Bundesvision Song Contest auftreten, mit einem Stück über David Bowie in der Philharmonie de Paris, eigensinnige Kolumnen für Den Spiegel und Die Zeit schreiben und nach dem fünften Album ganz nebenbei eine Karriere als Soundtrack-Komponistin starten – Sophie Hunger schafft das. „Durch den Erfolg von Zucchini habe ich einen Fuß in die Tür der Filmmusik bekommen“, sagt sie und meint damit den französischen Animationsfilm Ma Vie de Courgette von 2016, der für einen Oscar und einen Golden Globe nominiert war, während ihre Musik dazu gleich eine ganze Reihe Preise einheimste: Sie gewann den European Animation Award für den besten Soundtrack, den Prix Lumière als beste Nachwuchs-Scorerin und war für den Französischen César nominiert. Seit einigen Jahren arbeitet sie auch an der Musik für Gregory Colbert’s “Nomadic Museum” in New York, dessen Premiere mit Spannung erwartet wird.
Dieser Hintergrund erklärt, warum Hunger sich auch nach ihrer Station in Berlin nicht neuerfinden musste, um ihre neugefundene Liebe zur elektronischen Musik in ihren eigenen Kosmos aufzunehmen. Molecules ersetzt den jazzigen Folk, der sie in eine Reihe mit anderen widerspenstigen Poetinnen wie Laura Marling und Feist stellte, durch eine Mischung aus Synthies, Beats und reduzierten Berghain-Nachklängen, die sie selbst „minimal electronic folk“ nennt. Der Kontrast aus vorsichtiger Zärtlichkeit und einsamer Düsterkeit, der ihre Musik schon immer ausgemacht hat, bleibt aber auch im neuen Gewand unverkennbar, genau wie die kleinen Merkwürdigkeiten, die sich darin festsetzen. Und obwohl Molecules Hungers persönlichstes Album geworden ist, spricht sie immer noch genauso ungern über die Dinge, die ihre Songs am besten sagen.
„Dieses Album ist etwas heikel für mich“, sagt sie, „weil ich es bisher vermieden habe so direkt zu schreiben. Aber dann kommt so eine Trennung, das ist Dekonstruktion, so als würden die Dinge wieder in ihre kleinsten Teile zerfallen. Da wurde alles ein bisschen labil. Gleichzeitig passierte etwas ganz Ähnliches auf politischer und gesellschaftlicher Ebene, wo Strukturen zerlegt wurden und Institutionen zerfielen, und auf eine komische Weise muss man so etwas auch noch begrüßen, weil es so vorwärts geht. Songs wie Let It Come Down oder Elektropolis – eine Hymne an Berlin – entstanden z.B. aus diesem Gefühl.“ Die Single There Is Still Pain Left verkörpert die romantische Ebene. „Es geht darum, mit jemandem zusammen zu sein der depressiv ist, der von Dunkelheit angezogen ist als wäre es eine Olympische Disziplin, bereit alles andere dafür zu übersehen, also mich.” An anderer Stelle widmet sich Cou Cou sanft wie ein Wiegenlied einem Thema, das kaum je in Popsongs zur Sprache kommt: den anderen Menschen, die dabei übrigbleiben. „Es gab auch zwei kleine Kinder, und als ich gehen musste, wurde mir klar, dass ich somit Ex-Kinder haben würde. Der Begriff alleine ist schon easy scheusslich. Ich habe nicht nur den Mann verloren, sondern auch die Kinder, und das ist eine ganz andere Art von Trennung.“
Dass Hunger ihren Blick mit Molecules nach innen richtet, liegt daran, dass sie beim Schreiben „isoliert und labil“ war, sagt sie. Sie schrieb und programmierte die Lieder über einen Sommer in ihrem Home Studio, bevor sie es gemeinsam mit Dan Carey im Herbst 2017 in London aufnahm. Dabei blieben die beiden unter sich. Das heißt aber nicht, dass sie dabei die Augen vor der Welt verschlossen hätte; im Gegenteil. Das trotzig klimpernde She Makes President ist ihre Reaktion auf einen Bericht, der vor der amerikanischen Präsidentschaftswahl die Wählerinnen zum Zünglein an der Waage erklärte – „Und dann wurde Trump gewählt. Der Song sollte die Vision einer weiblich geprägten Zukunft ausmalen, und dann sorgten die Frauen nicht nur dafür, dass Trump Präsident wurde, sondern erwiesen sich wieder einmal als Henkerinnen ihrer eigenen Machtergreifung.“ Tricks, in dem sich CS80- Synthesizer Hits über einen Krautrock-Beat spannt, ist ähnlich politisch geprägt. „Nitroglycerin for healing you are in control of people’s feelings, you push ’em down to help ’em up“, singt sie und zählt auf, womit sich korrupte Politiker und Geschäftsleute bereichern um schliesslich zu fragen “What are you gonna do, when your dreams have all come true?”
Der metaphorische rote Faden auf Molecules besteht aus dem, was Hunger „Masse“ nennt – physikalische Stoffe von Insulin über Nitroglyzerin bis Zelluloid. „Ich wollte ein Vokabular haben, das die materielle Wirklichkeit meiner Welt widerspiegelt“, erklärt sie. „ Wenn klassische Singer- Songwriter-Vokabel mal bones, blood and birds waren; müssten das heute plastic, plutonium und particles sein. Außerdem habe ich viele synthetische Sounds verwendet, und ich wollte einen Zusammenhang zwischen Text und Musik schaffen, ohne dass es albern wirkt.“
Albern wäre das letzte Wort, das einem zu Sophie Hunger einfällt. Die ersten bleiben: talentiert, klug und eine Künstlerin, wie wir sie 2018 dringend brauchen. Mit Molecules schickt sie ein Album in die Welt, das sich dem postfaktischen Zeitalter der Ignoranz mit Trotz und intellektueller Glaubwürdigkeit entgegenstellt. Pragmatisch, unerwartet und hellwach.